Lean – Wege aus der Sackgasse

Lean – Wege aus der Sackgasse

Ich war gerade ein paar Monate in meinem ersten Job nach der Universität, wo ich meine Promotion mit einer experimentellen Arbeit über Materialphysik abschloss. Ja, experimentell, praktisch.

#leanmagazin
am 09. 03. 2021 in LeanMagazin von Mario Buchinger


Ich bin kein Fan von Theorie, wenn auch theoretische Überlegungen durchaus ihre Daseinsberechtigung haben. Aber Ausprobieren nach vorheriger Überlegung, das ist es.
So stand ich da als junger Berufsanfänger. Ich war nicht mehr als das und warum hätte ich mir auch einbilden sollen, ich wäre mehr? Dieses ganze Geschwafel von „High Potentials“ und all diese Business-Kasper-Typen, die mit Ende 20 oder Anfang 30 schon davon ausgehen, sie seien die nächsten Top-Führungseliten.

Ich war Teilnehmer in einem Trainee-Programm eines großen deutschen Automobilkonzerns für angehende „Lean“-Experten. Bis dahin habe ich Begriffe, wie „Lean“ oder „Kaizen“, nie gehört. Ich bin Naturwissenschaftler, kann nur rudimentär mit Excel und PowerPoint umgehen, denn diese Anwendungen sind in der Welt der Physik unüblich. Es heißt ja auch „Microsoft-Office“ und nicht „Microsoft-Science“. Die Welt des Bullshit-Bingos war ebenfalls Neuland für mich. Ich kann ganz gut Englisch, hatte ich doch meine Doktorarbeit auf Englisch geschrieben, aber all diese englischen Begriffe in einem Bürogebäude in Stuttgart irritieren mich.

Wie kommt ein Physiker, der mit der Geschäftswelt irgendwie nichts am Hut hat, in ein Umfeld, das von den Ingenieurswissenschaften und der Betriebswirtschaft dominiert wird? Mein erster Job in diesem Automobilunternehmen war in der IT. Ich war die Schnittstelle zwischen Anwendern in der Produktion auf der einen Seite und den Programmierern auf der anderen Seite, also mitten drin im Kunden-Lieferanten-Sandwich. Und weil ein Abteilungsleiter in einem der Werke der Ansicht war, ich würde so viele eigenartige Fragen stellen, bin ich bei den „Lean-Fuzzies“ gelandet.

Und nun? Die Lernkurve war, wieder einmal, steiler als sonst. Die Kollegen gaben mir einige Bücher, die man lesen sollte, was ich auch tat: „The Machine that changed the World“ (Womack, Jones, Roos), „The Toyota Production System“ (Ohno), „Kaizen“ (Imai), „Lean Thinking“ (Womack), um nur einige zu nennen. In den Jahren danach kam noch das eine oder andere Werk dazu. Alles sicher lesenswert, nur was steckt wirklich drin? Das alles machte für mich keinen Sinn. Imai und Ohno, das passt ganz gut. Aber der Rest?

Die Expertenausbildung war für mich eine sehr gute Zeit. Ich durfte unter Anleitung erfahrener „Lean“-Experten vier Projekte vor Ort umsetzen. Begleitet wurde ich unter anderem von ehemaligen Toyota TPS-Trainern. Aber auch Nicht-Toyota-Trainer waren dabei. Die Trainer, die früher mal bei Toyota waren, haben sich in ihrer Didaktik deutlich von den anderen unterschieden. Das Verhältnis zwischen Fragen und Antworten lag bei etwa 90% zu 10%. Bei den anderen Trainern war es gefühlt eher umgekehrt.

Ein sehr interessanter Teil der Expertenausbildung war eine Reise nach Japan. Dort hatten wir die Gelegenheit, mehrere Unternehmen zu besuchen, unter anderem die Werke von Toyota. Dabei hat mich eine Frage nicht losgelassen: Warum lässt ein Unternehmen wie Toyota eine Gruppe von Mitarbeitern und Führungskräften der Konkurrenz in ihre Werke? Man kann in einem Toyota-Werk sehr viel spannende Dinge sehen und erleben. Und obwohl man die japanische Sprache nicht kann, versteht man sehr gut, wie diese Fabrik tickt.

Die Antwort auf diese Frage ist relativ einfach: Das, worauf es ankommt, sieht man nicht.

Warum mich die Frage dennoch weiter beschäftigt hat, ist eher der Umstand, weshalb so viele bis heute die Antwort offenbar nicht kennen.

Wir sind nun ein Vierteljahrhundert weiter, seitdem Womack, Jones und Roos die, wie sie es nannten, „zweite Revolution“ in der Automobilindustrie postulierten. Mit ihren Untersuchungen wollten die drei Wissenschaftler am MIT den Erfolg des japanischen Autobauers Toyota auf dem nordamerikanischen Markt erklären. Sie folgerten, dass Toyota deshalb so erfolgreich ist, weil sie eine Produktion haben, die mit nur wenig Beständen, effizienten Prozessen und kurzen Durchlaufzeiten auskommt. Die Welt von Toyota war also „schlank“, sprich „lean“, aufgestellt. Damit haben sie aber nur ein Ergebnis gesehen, die Folge einer Denkweise, einer Lebens- und Arbeitseinstellung ist. Es geht aber vielmehr um eine Kultur und die innere Haltung der beteiligten Menschen, bestehend aus Mitarbeitern und Führungskräften, und das kann man eben nicht sehen. Der Fachbegriff, der sich aus den Analysen von Womack, Jones und Roos etablierte, beschreibt also nur einen sehr kleinen Teil und ein Ergebnis dessen, was sie herausfinden wollten und nicht den eigentlichen Kern. Damit resultiert der Fachterminus „Lean“ eigentlich aus einem Missverständnis.

Als erste Revolution bezeichnet man klassischerweise den Taylorismus umgesetzt durch Henry Ford.

Ford gelang es bereits in den 1930er Jahren, ein Automobil als Massenprodukt zu verkaufen, weil seine Produktionskosten hinreichend niedrig waren. Selbst Vertreter aus dem damaligen Nazi-Deutschland, die einen deutschen „Volkswagen“, auch als KDF-Wagen, später als „Käfer“ bekannt, bauen wollten, ließen sich in den 1930er Jahren von Ford inspirieren. War zuvor das Automobil ein Werkstattprodukt, das aufwändig in Handarbeit zusammengeschraubt wurde und sich nur sehr Wohlhabende leisten konnten, gelang es Ford eine Fließbandfertigung umzusetzen, in der Arbeiter in einem standardisierten und teilweise automatischen Prozess Autos bauten. Die Anzahl der Varianten war gering und das Produkt einfach. So wurde das Automobil ein Fabrikat für die Masse, das sich auch Menschen mit durchschnittlichen Einkommen leisten konnten.

Doch was bedeutet eigentlich der Begriff „Revolution“?

Im Duden finden wir dazu folgende Zusammenfassung: „Umwälzende, bisher Gültiges, Bestehendes o. Ä. verdrängende, grundlegende Neuerung, tiefgreifende Wandlung“. Das Wirken von Henry Ford kann sicher als eine revolutionäre Veränderung bezeichnet werden. Die Aussage von Womack, Jones und Roos, es handle sich bei „Lean“ um eine Revolution in der Automobilindustrie, suggeriert massive Veränderungen in Anlehnung an die Einflüsse von Henry Ford. Aufbauend auf Womack, Jones und Roos postulierten Experten ähnliche Veränderungen auch für andere Branchen und sogar andere Arbeitsumfelder, wie etwa administrative Bereiche. Doch trifft das auch auf den Kontext von „Lean“ in den 1980er und 1990er Jahren zu? Dies muss klar bezweifelt werden, von einer „revolutionären Veränderung“ kann eindeutig nicht die Rede sein.

Jetzt werden mir sicher sehr viele widersprechen. Schließlich wurden eine Vielzahl an „Lean“-Programmen eingeführt, um die in „Lean“ propagierte Eliminierung der Verschwendung, also die Arbeitsinhalte, die keinen Wert für die Kunden darstellen, systematisch zu beseitigen. „Lean“ wurde in allen möglichen Arten und Weisen „implementiert“ und fast jedes Unternehmen, das irgendwas auf sich hielt, baute seine eigene interne „Lean“-Truppe auf und einige verkaufen bis heute ihre vermeintliche Expertise als Beratungsleistung auf dem freien Markt. Eigentlich ist nichts Anderes passiert, als schon in den Jahrzehnten davor. Es wurde eine Methodik implementiert, die man als „Allheilmittel“ angepriesen hat. Zuvor gab es schon andere vermeintliche „Allheilmittel“, so zum Beispiel die Gruppenarbeit, TQC, SixSigma, Refa, MTM und viele andere. Diese Methoden und Vorgehensweisen sind nicht falsch, sie haben durchaus ihren Sinn, wenn man diese richtig anwendet.

Eine Methodik ist nichts anderes als ein Werkzeug in einem mehr oder weniger umfangreichen Werkzeugkasten.

Aber wenn für das vorliegende Problem das richtige Werkzeug nicht im Kasten ist, muss man eben ein anderes nehmen oder sich ein neues Werkzeug ausdenken. Doch oft wird versucht jedes Problem mit demselben und bereits vorhandenen Werkzeug zu beheben, was weder sinnvoll noch zielführend ist. Man macht damit die Prozesse zum Sklaven der Methoden, anstatt umgekehrt die passenden Methoden den Prozessen unterzuordnen.

Revolutionen haben oft etwas mit neuen technischen Möglichkeiten, Erfindergeist und daraus resultierenden neuen Methoden zu tun. Aber eine Methodik an sich ist noch lange nichts Revolutionäres. Wie bereits oben erwähnt, ist eine Revolution eine tiefgreifende Veränderung, die ein Umdenken bei den Menschen und in der Gesellschaft bewirkt. Die Entwicklung einer neuen Methodik kann eine Revolution zur Folge haben, was aber nur in den seltensten Fällen eintritt. So verhält es sich auch im Fall von „Lean“. Wo ist die gesellschaftliche Veränderung? Was hat sich bei den Menschen im Denken und Handeln wirklich verändert? Richtig, gar nichts.

Der Kern des Handelns von Entscheidern in der Wirtschaft ist nach wie vor identisch mit der „Prä-Lean-Zeit“. Der Fokus der Unternehmen liegt primär auf der Profitmaximierung. Das „Eliminieren von Verschwendung“ soll Effizienz steigern und damit die Kosten senken. Da der Marktpreis in den meisten Fällen durch die Nachfrage im Wettbewerb bestimmt wird, ist die Kostenseite daher umso relevanter geworden.

Die Sichtweise vieler Manager ist relativ einfach: Senke die Kosten und erhöhe damit den Gewinn.

Dafür war und ist für viele „Lean“ eine sehr willkommene Vorgehensweise. Auch viele Berater sehen bei „Lean“ ein sehr einfaches und willkommenes Geschäft. Viele versprechen einem bis heute die einzig wahre Vorgehensweise um „Lean“ zu „implementieren“. Man verkauft einem die „eierlegende Wollmilchsau“, die einem verspricht, Effizienz schnell und einfach zu steigern. Es ist eine Zeit, in der in vielen Unternehmen „Produktionssysteme“ wie Pilze aus dem Boden schießen und es werden mehr oder weniger starre Vorgehensweisen beschrieben, wie man bei der Umsetzung von „Lean“ vorzugehen hat.

Es klingt ja auch sehr einfach. Alles muss schneller und mit weniger Einsatz von Ressourcen ablaufen. Dabei wird auch der Mensch auf eine Ressource reduziert. In vielen Unternehmen werden „Lean“-Projekte mit Ratio-Kennzahlen versehen, mit denen man die Kostenersparnis sichtbar machen möchte. Es entstehen eine Vielzahl an Ratgebern und Büchern zu dem Thema. Außerdem tummeln sich jede Menge Berater und Bildungsanbieter am Markt, die einem Seminare und Zertifikate verkaufen möchten, in denen den Teilnehmern vermeintliche Wege zur Implementierung gezeigt werden.

Zusätzlich zu „Lean“ gesellen sich noch weitere vermeintliche „Allheilmittel“ dazu. Ein sehr polarisierender Begriff ist „LeanSixSigma“, bei dem man den Ansatz von SixSigma, der durch Motorola in den 1980er Jahren begründet wurde, mit dem „Lean“-Begriff verbunden hat. Schon SixSigma war problematisch, ist es doch nichts anderes als eine statistische Vorgehensweise, wie sie in der Mathematik und den Naturwissenschaften schon seit Jahrhunderten bekannt ist, kombiniert mit den PDCA-Ansätzen nach Deming und viel gesundem Menschenverstand.

Der Begriff „Industrie 4.0“ setzt dieses Methoden-Karaoke weiter fort.

Dieses vieldiskutierte Thema ist eher durch ingenieurslastiges Denken geprägt, entwickelt sich damit zum Selbstzweck und lässt Kundenbedürfnisse in weiten Teilen außer Acht. Man fokussiert auf die Frage, was man selbst für die Technologie tun kann, als die Technologie für die Kunden und damit für den eigenen Prozess leisten kann. Immer wieder schießen neue vermeintliche Lösungen empor, die einem versprechen, der wahre Weg zum wirtschaftlichen Erfolg zu sein. Der Nutzen für die Unternehmen ist meist eher von fragwürdiger Natur. Mitarbeiter und Führungskräfte haben immer wieder neue Ansätze erlebt, es wird von den „Säuen“ gesprochen, die durch „das Dorf“ getrieben werden.

Viele dieser Methoden, aber insbesondere „Lean“, haben obendrein zu sehr viel verbrannter Erde geführt. Die Idee, Verschwendung zu eliminieren um damit Effizienz und Profit zu maximieren, hat mitunter zu unmenschlichen Auswüchsen geführt, bei denen der Mensch auch als „Verschwendung“ bezeichnet wurde. Zwar konnten einige dieser Unternehmen kurzfristig tatsächlich ihren Profit erhöhen, jedoch lässt sich der Kollateralschaden, den sie durch Demotivation und Ängste der verbleibenden Mitarbeiter sowie Reputationsverlust erlitten, nicht in einer Excel-Tapete darstellen. Die verantwortlichen Manager sind dann, wenn es richtig bergab geht, oft nicht mehr da und werden leider auch nicht zur Verantwortung gezogen. Arbeitnehmervertreter bekommen in vielen Fällen aus guten Gründen große Sorgenfalten im Gesicht, wenn der Begriff „Lean“ irgendwo auftaucht.

Am meisten profitiert haben dürfte aber die Branche der Unternehmensberater. Das reicht von den kleineren und aus dem „Lean“-Hype gegründeten Beraterfirmen bis hin zu den großen Strategieberatungen, die plötzlich eigene „Lean“-Beraterteams aufgebaut haben. Beim Thema „Lean“ wollen alle umsetzungsorientiert sein, nicht mehr verschwunden sein, wenn es an die wahre „Implementierung“ geht. Damit versucht die Beraterbranche auch dem immer schlechter werdenden Image entgegenzuwirken, Folien und Excel-Tabellen zu hinterlassen und dann zu verschwinden. Aber gerade bei der „Implementierung von Lean“ kann man in der aktiven Umsetzung noch leichter die Verantwortung dem Kunden zuschieben. Kann sich doch der Berater stets darauf berufen, für die operative Umsetzung nicht verantwortlich zu sein und die ausführenden Personen hätten die Methoden eben nicht lebendig werden lassen, eben die notwendige Kultur nicht verinnerlicht.

Und hier wird es nun besonders perfide.

Schon früh hatten einige „Experten“ die Erkenntnis, dass es ja eigentlich um eine Kultur geht. Da man eben Kultur und Verhalten von Menschen schlecht systematisch beschreiben kann, bleibt dieses Thema immer etwas vage.

Dieser Aspekt verleitete Mike Rother 2009 ein Buch zu veröffentlichen, in dem er korrekterweise feststellte, dass es eben nicht um die Methodik geht, sondern um eine Kultur. Soweit, so gut. Mike Rother war bis dahin eher bekannt als eine Art „Methodenpapst“, der durch Werke wie „Learning to see“ einem die Vorgehensweise der Wertstromanalyse und des Wertstromdesigns nahebrachte. Für sein Buch wählte er den Titel „Kata“, ein Begriff, den man im Japanischen aus der Kampfkunst kennt. Dieser Begriff meint nichts Anderes als „Übung“, die man immerwährend strukturiert wiederholt, um dies mit der Zeit in eine Routine zu überführen. Dazu postuliert er eine auf strukturierte, sich ständig wiederholende Fragetechnik basierende methodische Vorgehensweise, die verspricht, die notwendige Kultur zu erreichen. Und an dieser Stelle hat Mike Rother seine an sich korrekte Erkenntnis, dass es mehr um eine Kultur als um eine Methode geht, ad absurdum geführt. Er bleibt wieder methodisch und fällt damit in das bestehende Paradigma zurück. Auf seinem Buchcover spricht er in der englischen Fassung sogar von „managing people for improvement“. Auch im englischen ist „managing“ ein Begriff, der versachlicht. Man spricht von „verwalten“, etwas „handhaben“ oder etwas „erreichen“. Treffender hätte es eher „leading“ oder „guiding“ heißen müssen. Diese Begriffe enthalten sehr viel deutlicher menschenbezogene Inhalte und bei einer Kultur geht es eben genau um Menschen.

Ein weiteres Problem sind linguistische Barrieren. Viele Begriffe aus der „Lean“-Welt kommen aus dem Japanischen.

Das Problem an der Sache ist nur, dass man ostasiatische Sprachen nicht einfach mit einem Wörterbuch direkt übersetzen kann. Das ist bei europäischen Sprachen teilweise auch schon schwierig, bei ostasiatischen Sprachen wird es sehr kritisch. Nimmt man zum Beispiel den Begriff „Kaizen“, stellt man fest, dass dieser aus den beiden Wörtern „Kai“ und „Zen“ besteht. „Kai“ bedeutet soviel wie „die Veränderung“ und „Zen“ umreißt das Wort „das Gute“, wobei auch diese Wörter im Deutschen bereits viel Interpretationsraum zulassen. Nach der nüchternen Übersetzung kommt man dann zu „die Veränderung zum Guten“, oder kürzer und weniger emotional: Kontinuierliche Verbesserung. Und weil der typische Manager und Unternehmensberater emotionale Inhalte nicht versteht, da man sie nicht in Kennzahlen ausdrücken kann, macht man daraus einen Prozess und fertig ist „KVP“.

Doch im Begriff „Kaizen“ steckt viel mehr. Es ist eine in Japan schon seit Jahrhunderten verankerte Lebenseinstellung: Man wird besser in kleinen Schritten, indem man sich selbst stets hinterfragt. Außerdem ist es dabei unumgänglich Fehler zu machen. Das ist sehr positiv, denn daraus lernt man und wird so schließlich besser. Die Richtung des Besserwerdens verfolgt niemals die persönliche Profilierung. Das Wohl eines Einzelnen ist dabei stets von minderer Bedeutung als das Wohl Mehrerer. Was so einfach klingt, ist für einen menschlichen Geist eine enorme Herausforderung.

Sich selbst und sein Handeln hinterfragen? „Niemals, wie stehe ich denn dann beim Chef und den Kollegen da. Niemals Schwäche zeigen!“

Fehler sind willkommen? „Wie ist das möglich, Fehler gibt es nicht, nur Herausforderungen! Fehler zeugen von Inkompetenz!“

Man sieht daran sehr deutlich, dass die Reduktion von „Kaizen“ auf „Kontinuierliche Verbesserung“ weit zu kurz greift. Den allergrößten und entschiedensten Teil, nämlich die kulturellen und menschlichen Inhalte, hat man damit komplett ignoriert.

Solche fatalen Fehler passieren immer wieder. Beim Begriff „Hoshin Kanri“, unter dem die meisten lediglich einen Policy-Deployment-Prozess verstehen, ist ein ähnlich fataler Irrtum aufgetreten. Auch hier steckt ein Vielfaches von dem drin, was die meisten darunter glauben zu verstehen. Und den Mangel an Wissen findet man leider nicht nur bei ahnungslosen Mitarbeitern und Führungskräften, sondern auch bei einer Vielzahl an Trainern und Beratern, die sich ihr Unwissen und ihre „Dog-And-Pony-Show“ mit einem fürstlichen Honorar bezahlen lassen.

Wenn man mit Menschen spricht, die in den Vorzeigeunternehmen, allen voran Toyota, arbeiten, stellt man fest, dass sie viele Begriffe, die man sonst so kennt, nicht verwenden. Man ist erstaunt, dass sie eben kein „Produktionssystem“ im klassischen Sinn haben, das als eine Art Bibel gesehen und wie ein fixer Implementierungsleitfaden verwendet wird. Vorgehensweisen erscheinen eher beliebig und für ein gleiches oder zumindest ähnliches Problem sieht man innerhalb des Unternehmens verschiedene Lösungen.

Ein Manager eines deutschen Automobilkonzerns hat bei einem Werksbesuch bei Toyota in Tsutsumi in der Diskussionsrunde mit der Werkleitung die Frage nach der Art und Anzahl der SixSigma- und „Lean“-Projekte gestellt, die aktuell am Standort laufen. Die Antwort hat ihn und viele andere Teilnehmer überrascht. Sicher, man kenne diese Begriffe, aber dieser Duktus sei in deren Hause fremd. Wenn es ein Problem zu lösen gäbe, würde es eben gelöst, zielführend und pragmatisch. Wenn man mit lokalen Kleinunternehmern, wie einem Tischlermeister auf dem Land, spricht, stellt man auch oft fest, dass die Eigentümer dieser Unternehmen vieles ähnlich machen, wie die immer wieder als Vorbild genannten Weltunternehmen. Obwohl sie Begriffe, wie „Lean“, „SixSigma“, „KVP“ oder andere, nie gehört haben. Diese Unternehmer handeln und denken genauso, wie sie genannt werden: Unternehmerisch.

Doch um was geht es denn nun, wenn nicht um die Steigerung von Effizienz und Profit?

Das Problem an dieser Frage ist, dass die Antwort nicht in das Bild passt, was sich Manager und Unternehmensberater am meisten wünschen. Die klassische Management-Schule, sowie die Betriebswirtschaftslehre und die Ingenieurswissenschaften gehen davon aus, dass alles in irgendeiner Art und Weise plan- und kontrollierbar ist. In deren Welt folgen Unternehmen strukturierten Abläufen, die innerhalb bestimmter Systemparameter planbar sind. Es gibt Modelle, die die unternehmerische Realität beschreiben und welche sich schon über viele Jahre bis Jahrzehnte etabliert haben.

Unter der Annahme dieser Erwartungshaltung ist sehr leicht erklärbar, weshalb die „Lean“-Welt auf diese klare und methodisch strukturierte Sichtweise steht. Es ist alles schön linear und man kann zumindest die nächsten Schritte immer klar erkennen und kontrollieren. Und wenn es schiefgeht, sucht man eben die Schuldigen und der Karriereweg irgendeines jung aufstrebenden Business-Kaspers ist unter Umständen vorzeitig beendet. Die schöne heile Business-Welt. Nur so funktioniert das eben nicht mit dem, was wirklich hinter „Lean“ steckt.

Als Physiker habe ich gelernt, dass jedes Modell, das wir kennen, niemals eine Realität darstellt, sondern lediglich eine abstrahierte, mehr oder weniger vereinfachte Abbildung eines komplexen Systems ist. Es kann sogar vermeintlich widersprüchliche Modelle geben. Man kann die Natur des Lichts einerseits mit dem Wellenmodell erklären, um zum Beispiel Interferenzen an einem Beugungsgitter zu verstehen. Aber auch das Teilchenmodell macht Sinn, welches den photoelektrischen Effekt erklären kann, jener Effekt, der einer Photozelle zugrunde liegt und für dessen Entdeckung Albert Einstein 1921 den Nobelpreis bekam. Das Licht ist aber vermutlich weder das eine noch das andere. Die wahre Natur des Lichts kennen wir nicht, wir können nur seine Auswirkungen sehen, nie das Licht selbst. Wir müssen uns also damit begnügen, dass wir mit einem abstrakten Modell arbeiten müssen. Mit Unternehmen verhält es sich ähnlich.

Unternehmen bestehen aus Menschen und diese, so wie alle anderen Wesen auf diesem Planeten, entsprechen nicht linearen und planbaren Verhaltensmustern.

Noch dazu interagieren sie mit anderen. Daher ist es naiv zu glauben, Unternehmen und die Wirtschaft würden linearen und planbaren Gesetzmäßigkeiten unterliegen, denn genau das tun sie nicht. Dies soll nun nicht heißen, dass alles unbekannt ist und man letztlich nichts weiß und man daher machen kann, was man will. Es ist sicher möglich, im Rahmen gewisser Prämissen eine Vorgehensweise im Unternehmen zu entwickeln. Manche Annahmen treten ein, andere nicht. Doch dies muss ein Unternehmen ertragen. Gewisse Dinge, natürlich nicht alle, liegen nun mal im Ungewissen. Führungskräfte müssen das verstehen, akzeptieren und damit umgehen. Abweichungen und Fehler sind also nichts Schlechtes, sie sind Teil unseres täglichen Lebens. Im Wirtschaftsumfeld tun aber viele so, als seien sie abnormal und dürften nie vorkommen. Es soll hier klar gesagt werden, dass fahrlässige und wiederholende Fehler nicht gemeint sind.

Mit Kennzahlen verhält es sich sehr ähnlich. Es herrscht das Bild vor, diese seien die Realität.

Doch das sind sie nicht. Es sind Messgrößen und zwar von nur einzelnen mikroskopischen Bestandteilen eines komplexen Systems. Dazu kommt, dass Kennzahlen immer mit Verspätung ankommen und dass der Effekt, der diese Messgrößen erzeugt hat, längst in der Vergangenheit liegt. Wenn man Kennzahlen nutzt, um Fehler und Abweichungen zu erkennen, kann das nur hilfreich sein, wenn man zeitnah damit arbeitet.

Die Frage, ob all die erfassten Zahlen wirklich verwendet werden, ist oft mehr als berechtigt. Die meisten Kennzahlen dienen der eigenen Rechtfertigung und haben keinerlei Nutzen zur Verbesserung des Unternehmens. Aus unternehmerischer Sicht sind sie nutzlos und repräsentieren eine ganz erhebliche „Verschwendung“. Gewiss, eine bestimmte Menge an Zahlen kann durchaus hilfreich sein, aber dies können nur ganz wenige, höchstens drei bis sechs sein. Mehr kann der Mensch im Zusammenhang nicht verarbeiten und sie sind immer ein Indikator für eine Misstrauenskultur.

Und hier sind wir bei einem weiteren wichtigen Aspekt dessen, was wirklich hinter „Lean“ steckt, nämlich dem Vertrauen.

Kontrollmechanismen bilden in vielen Unternehmen einen überwiegenden Teil der Arbeit von Führungskräften. Dadurch haben sie nicht die Zeit, vor Ort zu sein, weil sie mit der Erstellung von Reportings beschäftigt sind. Wären die Chefs vor Ort, wäre weit weniger Reporting nötig und damit beißt sich die Katze in den Schwanz. Aufgrund von Misstrauenskulturen entstehen Reportings, welche wiederum dazu führen, dass Führungskräfte keine Zeit haben, sich um die Mitarbeiter, für die sie verantwortlich sind, und deren Prozesse und Verbesserungsideen zu kümmern, was wiederum die Kontrollmechanismen rechtfertigt. Sie finden, das ist widersprüchlich? Ist es auch.

Bei einem Werksbesuch bei Toyota habe ich erlebt, dass ein deutscher Manager den Werkleiter gefragt hat, wie es denn möglich sei, dass er bei der etwa zwei Stunden dauernden Werksführung so viele Produktionsleiter gesehen hat. In vielen japanischen Werken tragen die Mitarbeiter ihrer Hierarchie entsprechende farbige Mützen und sind daher leicht zu erkennen. Der Werkleiter schüttelte den Kopf und antwortete: „Wo sollen die denn sonst sein, wenn nicht vor Ort? Dafür werden sie bezahlt.“

Auf keinen Fall unerwähnt bleiben darf das Menschenbild, das in den Köpfen vieler Manager und auch Berater steckt.

Wir alle kennen den Begriff „Human Resources“, abgekürzt „HR“ für die Personalabteilung. Das Wort „Ressource“ ist an sich schon menschenfeindlich. Jedoch ist der Mitarbeiter in den Augen vieler Manager eben nichts Anderes als eine „Ressource“, die, ähnlich wie eine Maschine, Geld kostet und leider notwendig ist, damit eine gewisse Arbeit in Form von hoffentlich möglichst viel Wertschöpfung, verrichtet wird. Wäre eine menschenlose Fabrik möglich, wäre dies der feuchte Traum von einigen Managern und Beratern. Endlich ein Unternehmen mit keinen Mitarbeitern, die Urlaub wollen, krank werden könnten und auch noch Rechte einfordern. Gewiss drücke ich diesen Umstand plakativ aus, aber viele denken in der Tat so. Dieses Szenario wird aktuell immer wieder im Kontext von „Industrie 4.0“ diskutiert, wo auch häufig der Begriff „Dark Factory“ fällt. Dabei handelt es sich um eine dunkle Fabrik, in der Licht nicht notwendig ist, weil es keine Menschen mehr in der Fabrik gibt. Ich erlebe auch sehr oft Diskussionen, bei denen man die Wirtschaftlichkeit einer Automatisierung rechnet, indem man Lohnkosten dagegensetzt, obwohl die Arbeit durch einen Menschen oft besser machbar ist. Spätestens an dieser Stelle wird eindeutig ein menschenfeindliches Menschenbild erkennbar.

Wenn man den Mitarbeiter lediglich auf die Identität einer Ressource reduziert, hat man das, worum es wirklich geht, sicher nicht verstanden.

Der Mensch ist im Bild von Unternehmen, die eine lebendige Kultur der kontinuierlichen Verbesserung, also einen echten „Kaizen“, leben, die entscheidendste Quelle der Verbesserung. Die Menschen, die schon länger dabei sind, bringen Erfahrungen mit. Die jüngeren tragen frische Ideen bei. Die Kombination aus beiden Stärken, und dazu ist eine gute Führung gefragt, machen eine unternehmerische Stärke erst möglich. Gerade in der heutigen Zeit, in der sich Umstände am Markt durch die Verfügbarkeit von Informationen und die Mobilität der Kunden immer schneller und kurzzyklischer ändern, ist das Wissen der Belegschaft ganz besonders wertvoll und wichtig. Überlässt man das Schicksal eines Unternehmens lediglich ein paar vermeintlichen Eliten und ihren Beratern, reduziert man die Fähigkeiten des Unternehmens auf das Potential derer, die von der Realität am weitesten entfernt sind.

Es geht mitnichten um die Frage, welche Methodik man anwenden soll.

Es geht um die Frage, wie man als Mensch, insbesondere in der Rolle als verantwortliche Führungskraft, agiert. Welches Menschenbild hat man im Sinn? Auf welchen Zeitskalen richtet man sein Handeln aus? Nach welchen Kriterien bewertet man den Erfolg eines Unternehmens? Und kommen in den Entscheidungen die Kunden auch wirklich vor?

Die Phrasen, die man auf solche Fragen hört, sind meist sehr ähnlich. Kein Manager und kein Berater würde jemals offen sagen, dass ihm die Kunden und die Mitarbeiter egal seien. Ich glaube, den meisten sind die Kunden auch nicht egal. Die Bewertungskriterien über den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens sprechen aber meistens eine andere Sprache. Hier geht es dann eher um ROI, EBIT, Shareholder Value oder andere monetäre Kennzahlen. Der Fokus wird irrtümlicherweise als langfristig interpretiert, sobald man auf drei bis höchstens fünf Jahre schaut, was sicher alles Mögliche ist, nur nicht langfristig. Und Visionen oder Strategien werden mit einer „Wünsch Dir Was“-Liste von Ergebniszahlen verwechselt. Martin Winterkorn, der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Volkswagen, hatte immer das Ziel, Volkswagen zum größten Automobilkonzern der Welt zu machen. So ein Ziel macht keinen Sinn, denn es bildet keinerlei Mehrwert – weder für die Kunden, noch für die Mitarbeiter, noch für die Gesellschaft. Lediglich das Ego einiger weniger Manager wird durch so ein Ziel befriedigt. Noch viel kritischer ist, dass so eine Vorgabe niemals unternehmerisch verantwortlich ist. Die Folgen dieser fehlerhaften Zielableitung sind bei VW heute deutlich erkennbar.

Wir brauchen mehr Unternehmer und weniger Manager.

Dieser Satz fasst die zuvor genannten Aspekte gut zusammen. Der Kodex des „Ehrbaren Kaufmanns“ hat an Aktualität nichts verloren. Unternehmen haben mehr denn je eine enorme Verantwortung für das Wohl der Gesellschaft, die Umwelt und damit auch für sich selbst.

Doch was heißt das jetzt im Kontext von „25 Jahre Lean“?

Das, was als die „zweite Revolution“ gepriesen wurde, war letztlich nichts anderes, als eine weitere, vielleicht teilweise noch unmenschlichere, Vorgehensweise, das alte Paradigma aufrecht zu erhalten, in dem es um immer mehr Effizienz und damit immer mehr Profit geht, und in dem ein bedingungsloses Wachstum Voraussetzung ist. Dass dies nicht erfolgreich sein kann und nicht stimmt, hat man zuletzt in der Finanzkriese 2009 gesehen, die eigentlich eine Vertrauenskrise war und noch immer nicht ausgestanden ist, und am Diesel-Gate-Skandal von Volkswagen. Hätte man die wahre DNA hinter dem Erfolg von Toyota wirklich verstanden, sähe die Welt heute sicher anders, vermutlich besser, aus. Dann wäre sie wirklich gekommen, die „zweite Revolution“.

Doch dafür ist es nie zu spät. Anstatt sich zu überlegen, wie man die nächste Methodenkeule entwickeln und überstülpen kann, müssen sich die Menschen, insbesondere die Entscheider zu mehr Mut überwinden. Mehr Mut, etwas zu wagen, was man noch nicht kennt, sowohl kulturell als auch operativ. Wir müssen der Natur, also auch uns selbst, gerechter werden. Führungskräfte müssen endlich Führungskräfte sein und Verantwortung in aller Konsequenz übernehmen. Es gibt keine Blaupause für unternehmerischen Erfolg. Wir brauchen stets eine gute Balance zwischen Fakten und Intuition. Dabei darf das Menschliche, das Gute, nicht zu kurz kommen. Nur die Unternehmen, die es schaffen, dieses Paradigma aus der alten kontroll- und misstrauensdominierten Management-Schule hin zu einer verantwortungs- und vertrauensvollen Wirtschaft zu überwinden, werden langfristig erfolgreich sein. Wie das geht, muss man selbst erfahren. Leben bedeutet erleben. Jede Methodik kann dazu ein Hilfsmittel sein, aber sie ist immer nur so gut, wie ihr wirklicher Nutzen.

Unternehmensberater müssen weniger Berater und mehr Entwickler und Unterstützer sein. Sie dürfen den Unternehmen nicht sagen, wie sie ihren Job zu machen haben. Sie müssen mögliche Wege aufzeigen und Stolpersteine aus dem Weg räumen. Den für sie richtigen Weg müssen die Menschen in den Unternehmen aus eigener Entscheidung heraus letztlich selbst gehen. Wenn die Mitarbeiter in einem Unternehmen sagen, dass sie es selbst waren, die etwas umgesetzt haben, hat der Berater alles richtig gemacht. Es darf niemals der Berater sein, der als Umsetzer wahrgenommen wird. Das ist zwar konterproduktiv für das Ego mancher Berater, aber sehr hilfreich für die betreffenden Unternehmen. Unter solchen Bedingungen sind die meisten Geschäftsmodelle von Unternehmensberatungen allerdings hinfällig. Aber nur so kommt man weg von dem, was die Wirtschaft nicht braucht, nämlich Unternehmensberatungen als Selbstzweck.

Und so passt es doch ganz gut, dass ein Physiker, der Bullshit-Bingo befremdlich findet und Business-Kasper albern, letztendlich in das Umfeld passt. Das, um was es wirklich geht, ist nicht das, was viele glauben. Einige Unternehmen machen es, schon heute und teilweise seit vielen Jahren, vor. Toyota ist und war sicher eines von vielen guten Beispielen. Es gibt aber noch viele mehr. Im Kleinen hat sie schon längst begonnen, die „zweite Revolution“, und es ist längst keine alleinige Revolution der Automobilindustrie.



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