Recruiting für die Arbeit der Zukunft

Recruiting für die Arbeit der Zukunft

Auf der Lösungssuche zwischen Utopie und Dystopie

#leanmagazin
am 18. 05. 2017 in LeanMagazin von Dr. Andreas Zeuch


Ausgangslage

Die Spatzen haben es längst von den Dächern der Arbeitgeber gepfiffen: Die Arbeitswelt ändert sich. Die dazugehörigen Buzzwords sind fast allen bekannt: Agilität, Arbeiten 4.0, Digitalwirtschaft, Industrie 4.0, Neue Arbeit, Unternehmensdemokratie, Zukunft der Arbeit und so weiter und so fort. Dabei liegt naturgemäß mh, kein warum? kein einheitliches Verständnis dieser Begriffe vor, aber immerhin: Eine breitflächige Auseinandersetzung hat begonnen. Teils getrieben von Ängsten, teils von Hoffnungen. Beide immer wieder auch in Extremen zu beobachten, zwischen realitätsfernen Utopien und Dystopien. In diesem begrifflichen Chaos stellt sich unter anderem eine zentrale Frage: Wie findet man die passenden Mitarbeiter?

Dabei geht es um eine Passung auf vier Ebenen:

  1. Job – Person: Passen die BewerberInnen zu der ausgeschriebenen Stelle, bringen sie die nötigen fachlichen Qualifikationen mit?
  2. Vorgesetzter – Person: Passen die BewerberInnen zu den jeweiligen Vorgesetzten, können sie gut zusammenarbeiten?
  3. Team – Person: Passen die Bewerberinnen zu den Teams, in denen sie später arbeiten sollen, können sie in dieser Gruppe gut zusammenarbeiten?
  4. Organisationskultur – Person: Passen die BewerberInnen zu der jeweiligen Organisationskulturen, können und wollen sie zum Beispiel in einem agilen Mindset mit entsprechenden Methoden arbeiten?

Versäumnisse

Bei dem Blick auf die oben aufgeführten Dimensionen der Passung wird schnell deutlich: Es besteht eine eklatante Lücke zwischen dem, was geprüft werden sollte und dem, was tatsächlich im Rahmen aktueller Recruitingprozesse von der Ausschreibung bis zur Einstellung systematisch ausgelotet wird. Bislang liegt der Fokus auf der fachlichen Passung zwischen der ausgeschriebenen Stelle und den BewerberInnen. Das ist nur zu verständlich, schließlich waren die bisherigen Strukturen und Kulturen von Arbeitgebern relativ fix, nahezu zementiert. Das hat mehrere Ursachen:

Erstens stellten Arbeitgeber zentral einen Personalbedarf zu einer bereits vorhandenen Stelle oder einer neu geschaffenen fest. Und diese Stellen wurden dann mehr oder weniger fest besetzt. Im Falle mangelnder Passung wurde und wird im allgemeinen nicht in Betracht gezogen, eine eben passendere Stelle beziehungsweise Funktion zu finden.

Zweitens, eng damit verbunden, waren die Karrieremöglichkeiten und -pfade freundlich formuliert stabil, kritisch betrachtet: starr. Wer in einem Unternehmen mit 5 Hierarchieebenen anfängt zu arbeiten weiß ungefähr, welche Aufstiegsmöglichkeiten er oder sie hat und was getan werden muss, um auf die nächste Ebene zu kommen.

Drittens gab es die klassische Unterscheidung in Mitarbeiter und Führungskräfte, die dann auf jeweils fixen Positionen im Organigramm ihre Arbeit verrichteten. Nicht umsonst formulierte Laurence Peter sein „Peter-Prinzip“, „dass „in einer Hierarchie […] jeder Beschäftigte dazu [neigt], bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen“ (Wikipedia).

Viertens waren bislang praktisch alle Aufbauorganisationen nach der allseits bekannten Pyramidenform strukturiert. An der Spitze thront das Top-Management, gefolgt von Bereichs-, Abteilungs- und Teamleiter oder in welcher teils wesentlich stufenreicheren Variante auch immer.

In diesen Strukturen und Kulturen war die Suche nach neuen Mitarbeitern oder Führungskräften über die Stellenanzeige oder -ausschreibung der gängigste Weg, der zur standardisierten Konvention wurde. Der Blick in die führenden deutschen Online-Jobbörsen Stepstone und Monster zeigt, dass sich bis heute daran nichts geändert hat.

Aufgaben

Im Zuge der breitflächigen Transformation der Arbeitswelt stehen wir also auch bezüglich des Recruitings vor nicht unerheblichen Aufgaben. Wenn Organisationen fluider werden oder von Anfang an statt starrer, formal-fixierter Hierarchien alternative Organisationsformen aufweisen, werden die bisherigen Vorgehensweisen aus verschiedenen Gründen zunehmend versagen.

Sobald eine agile und selbstorganisierte Organisationskultur maßgeblich wird, braucht es neue KollegInnen, die nicht nur das fachliche Handwerkszeug mitbringen, sondern sich vor allem sicher auf dem Parkett einer solchen Kultur bewegen können. Das umfasst methodische Kenntnisse, Kompetenzen zum agil-selbstbestimmten Arbeiten und natürlich als Fundament eine entsprechende innere Haltung auf der Basis eines passenden Wertekanons. Wer eine steile Karriere hinlegen will, weil finanzieller Erfolg und Statussymbole wichtig sind, wird in einer flachen, dynamischen Hierarchie nicht gerne arbeiten; wer das dauerhafte Oszillieren zwischen Führung und geführt werden nicht erträgt, ist fehl am Platz; wer die Illusion fester, langfristiger Planung braucht, wird unter Dauerstress stehen.

In der Arbeit der Zukunft wird durch zunehmende Agilität und Selbstorganisation eine gelungene Zusammenarbeit wichtiger. Prozesse sind nicht mehr so strikt organisiert und geplant wie ehedem. Spontane Kommunikation und Interaktion wird wichtiger und nimmt mehr Raum ein. Damit dies gelingt, müssen die jeweiligen Teams gut miteinander klar kommen und auf die gemeinschaftliche Leistung fokussieren, anstatt auf die eigenen, individuellen Karrierevorteile. Damit das möglich wird und gelingt, müssen sich die Bewerber und jeweiligen Teams kennenlernen, bevor ein Vertrag unterschrieben wird.

Damit eng verknüpft ist die Frage, wer überhaupt den Personalbedarf feststellt, die neuen Kollegen verantwortlich einstellt und am Ende entlässt. Wer als die jeweiligen Teams weiß besser, ob ein Bedarf besteht, mit welchem der vorstelligen Bewerber man sich Zusammenarbeit am besten vorstellen kann und ob jemand im täglichen Arbeiten so wenig zur Aufgabe, der Führungskraft, dem Team und / oder der Kultur passt, dass eine Entlassung nötig ist?

Damit ist ein neuer Rahmen abgesteckt, um den Personalbedarf festzustellen, die Suche nach neuen MitarbeiterInnen passend zu entwickeln und die Einstellung und später die Entlassung neu zu gestalten und zu organisieren. In Unternehmen und Organisationen, in denen Agilität und Selbstorganisation in irgendeiner Form zu leitenden Organisationsprinzipien werden, bedarf es einer Dezentralisierung dieser Aufgaben, einer Delegation an die jeweiligen Teams. Das bedeutet zweierlei: Zum einen die Ermächtigung durch die aktuell verantwortlichen Stellen an die Teams und zum anderen die Verantwortungsübernahme durch die Teams.

Letztlich plädiere ich für eine radikale Haltung von Passung statt Leistungsdefizite in den Vordergrund zu stellen. Will heißen: Wenn jemand im Team nicht die erforderlichen Leistungen oder Verhaltensweisen in der täglichen Arbeit zeigt, sollte das nicht einem Schuldspruch gegenüber dieser Person gleichkommen. Stattdessen wäre herauszuarbeiten, ob die jeweilige Person und das Unternehmen überhaupt (noch) zueinander passen. Dann trägt keine Seite alleine eine „Schuld“, sondern beide Seiten sind verantwortlich, entweder eine Passung durch organisationsinternes Recruiting (wieder)herzustellen, indem eine passendere Stelle oder Funktion im Unternehmen gesucht und gefunden wird, oder aber die letztmögliche Konsequenz einer Entlassung zu ziehen.

Ausblick

Die Veränderung der Arbeitswelt fordert eine neue Sicht- und Herangehensweise an den gesamten Prozess der Personalbeschaffung:

  1. Delegation der Verantwortung über den gesamten Lebenszyklus von MitarbeiterInnen und Führungskräften an die Teams.
  2. Erarbeitung einer Haltung von Passung anstelle gegenseitiger Schuldzuweisungen.
  3. Übernahme der Verantwortung seitens der Teams über den gesamten Lebenszyklus: Bedarfsfeststellung, Suche, Einstellung, Onboarding, interne Stellenwechsel, Entlassung.
  4. Weg von der Nutzung althergebrachter Recruiting Angebote und Methoden hin zu neuen dazu passenden Vorgehensweisen.

Erfreulicherweise ist das nicht nur Zukunftsmusik, sondern wird von bislang einigen wenigen, wegweisenden Arbeitgebern bereits zum Teil oder sogar in Gänze umgesetzt. Dabei entstehen fraglos neue Herausforderungen, wie beispielsweise die Rückdelegation der Verantwortung bei Entlassungen. Das sind jedoch lösbare Herausforderungen, die eine Menge Lern- und Verbesserungspotential beinhalten.



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