Unternehmensdemokratie.

Unternehmensdemokratie.

Sträflicher Unfug oder hilfreich für Lean?

#leanmagazin
am 06. 06. 2016 in LeanMagazin von Dr. Andreas Zeuch


„Vor rund 10 Jahren arbeitete ich in einem Projekt zur Reintegration von ehemaligen Fach- und Führungskräften sowie von Empfängern des Arbeitslosengelds II, gemeinhin „Hartz IV“ genannt. Wir waren eine illustre Gruppe von Coaches und Trainern, recht bunt gemischt, Frauen wie Männer im Alter zwischen 35 und 50. Wir waren hochmotiviert, darin geübt, anderen neue Perspektiven zu ermöglichen und frischen Wind ins Wahrnehmen und Denken zu bringen. Eine unserer Praktikantinnen, die uns in der täglichen Arbeit unterstützte, machte eines Tages einen Vorschlag, um einen unserer Prozesse schlanker zu gestalten.
Wir waren überrascht, dass uns das nicht selbst auf- und eingefallen war, setzten den Vorschlag gerne um und sparten so einiges an unnötigem Aufwand.“

Was folgt daraus? Sicherlich kein Hohelied auf die Weisheit der Vielen. Aber nicht, weil wir im Team nur einige statt viele waren, sondern weil die Idee ja gerade nicht aus einem multi-perspektivischem Problemlösungsprozess kam, sondern von einer einzelnen Person. Es folgt auch kein Loblied auf eine beraterische Außenperspektive, auch wenn die so manches mal durchaus hilfreich sein kann, schließlich arbeitete die Praktikantin täglich mit uns zusammen und war vom System genauso absorbiert wie wir. Nein, meine Schlussfolgerung liegt in der banalen aber nicht trivialen Erkenntnis, dass jeder wertvolle Verbesserungen auch zur Verschlankung von Prozessen beitragen kann, egal über wieviel Erfahrung und verbriefte Kompetenz er oder sie verfügt. Der Coach, Trainer und Speaker Kurt August Hermann Steffenhagen bezeichnete im ManagementRadio Lean als „die Demokratisierung von Wissen“. Dem stimme ich zu und ergänze: „und die Demokratisierung von Entscheidungen.“

Asbach uralt und doch höchst aktuell

Unternehmensdemokratie und die Demokratisierung der Arbeit ist ein alter Hut. Viele, die davon hören oder darüber lesen, kommen zu dem wenig überraschenden, mit anderen Worten: ziemlich ausgeleierten Schluss: Das gab es doch alles schon mal. Dann wird an die 1980er erinnert oder, wenn jemand glaubt besonders tief recherchiert zu haben, an die 1970er. Alles falsch, weit gefehlt. Die erste umfassende Konzeptualisierung wurde bereits 1897 von Sydney und Beatrice Webb vorgelegt: „Industrial Democracy“. Damit sollte also klar sein, dass ich mich keineswegs mit verblichenen Lorbeeren schmücken will.

Ich erinnere nur daran und mache deutlich: Heute könnte eine Neuauflage vielleicht nachhaltig erfolgreicher sein als bisher, weil wir nun endlich auch die dazu nötigen Instrumente in Form neuer Technologien zur Verfügung haben: Mobile Computing, Remote Work, Entscheidungsmärkte, Systemisches Online Konsensieren, Appstimmen und so weiter und so fort. Heute können wir beliebig viele Menschen asynchron und lokal unabhängig in Entscheidungen miteinbeziehen, wenn es nötig ist. DAS ist der fundamentale Unterschied zu den bisherigen mehr oder minder erfolgreichen Versionen von Unternehmensdemokratie.

Versuch einer Definition

Aber was meine ich mit „Unternehmensdemokratie“ eigentlich? Das jetzt alle jederzeit alles mitbestimmen? Das alle Küchenlehrlinge nach Belieben in den Brei spucken dürfen und ihn so verderben? Kurzum: Nein. In meinem Buch „Alle Macht für niemand“ zeige ich ausführlich, dass es nicht „die“ Unternehmensdemokratie gibt, sondern vermutlich soviele Ausprägungen wie Organisationen, die demokratisch verfasst sind. Viele Wege führen nach Rom. Um den Begriff ein wenig zu präzisieren hier meine momentane Definition:

„Unternehmensdemokratie ist die Führung und Gestaltung von Organisationen durch alle interessierten Mitglieder, um den jeweiligen Organisationszweck zu verwirklichen. Sie ist verbindlich verfasste Selbstorganisation, die kein alleiniges Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung ist.“

Erfahrungsgemäß braucht auch das nochmals eine Erklärung: Das Entscheidende des ersten Satzes liegt darin, dass alle interessierten Mitglieder einer Organisation mitgestalten dürfen. Eine Kritik oder ein Zweifel besteht immer wieder darin, dass nicht alle Menschen mitgestalten wollen. Das ist zweifelsfrei richtig, auch wenn es keineswegs so bleiben muss, denn es gibt viele Gründe, warum das so ist. Einer davon ist die jahrelange Prägung auf die Abgabe von Verantwortung und das innerliche Zurückziehen auf Dienst nach Vorschrift. Wen wundert’s, dass diese Menschen nicht sofort begeistert Verantwortung übernehmen?

Der zweite wichtige Aspekt besteht in der verbindlichen Verfassung der Selbstorganisation und somit Mit- und Selbstbestimmung. Nicht heute Hü und morgen Hott. Das ist kein theoretisches Geschwurbel, sondern wird bereits von Unternehmen wie der Hoppmann Autowelt seit Jahrzehnten erfolgreich vorgelebt und von neuen Unternehmen wie der in Gründung befindlichen Österreichischen Bank für Gemeinwohl in Variationen neu interpretiert. Der Unterschied zur Selbstorganisation, wie sie seit Jahrzehnten diskutiert wird, besteht in genau dieser Form der Verbindlichkeit und dem klaren Bekenntnis, dass die Mit- und Selbstbestimmung der Belegschaft nicht alleine der Gewinnmaximierung dient. Sie ist auch ein Tribut an unsere Menschlichkeit. Denn jeder gesunde Mensch strebt nach einer (dynamischen) Balance aus Autonomie und Bindung, aus Selbstbestimmung und Zugehörigkeit.

Und wie geht das in der Praxis?

Vielleicht ahnen Sie es schon: Sie erhalten von mir weder hier noch an irgendeiner anderen Stelle ein Rezept, mit dem Sie fortan und für immer erfolgreich Lean Production oder Management umsetzen können. Es gibt keine Best Practice. Das zeigen auch die Fallbeispiele in meinem Buch. Aber eines kann ich zur Illustration gerne kurz skizzieren: Wie können Entscheidungen für Verschlankungen in die Praxis umgesetzt und erprobt werden, ohne dass es zur vielbeschworenen Entscheidungslähmung kommt, wenn doch alle, die wollen, demokratisch mitbestimmen dürfen? Eigentlich ist es im Kern ganz einfach:

Vorschläge werden nur dann nicht umgesetzt, wenn von den MitarbeiterInnen und Führungskräften, die von diesem Vorschlag betroffen sind, keiner einen begründeten, schwerwiegenden Einwand hat. Schwerwiegend bedeutet: Wenn dieser Vorschlag ausprobiert wird, besteht ein ernsthaftes Risiko, dass das Unternehmen in Gefahr gerät. Das ist das Wesentliche. Auf diese Weise wird es möglich, das auch Vorschläge und Ideen im Sinne von Lean-Startup kurzschleifig und iterativ in der Praxis getestet werden können, anstatt darüber lange zu philosophieren. Auch dann, wenn viele von dieser Idee im ersten Moment nicht begeistert sein mögen.

Eine ergänzende Option in der Praxis könnte zudem darin liegen, „Lean“ auch dahingehend zu interpretieren, dass Arbeitspakete schlank im Sinne des Widerstands werden, den sie bei denjenigen Personen auslösen, die diese Arbeiten ausführen. Wen seine Arbeit ankotzt – um nicht lange darum herum zu reden – der wird früher oder später Dienst nach Vorschrift schieben oder in die innere Kündigung abtauchen. Und mit Sicherheit keinen Beitrag mehr dazu leisten, diese Arbeit immer weiter zu verschlanken und eleganter auszuführen. Deshalb könnte es ratsam sein, im Laufe der Zeit herauszuarbeiten, wer welche Aufgaben nicht gerne macht. Wenn Sie dann wissen, wer seiner Arbeit die rote Karte zeigt, können sie gemeinsam mit den Betroffenen den Widerstand reduzieren. Wenn jemand seine ungeliebte Arbeit weitermachen möchte, müssen offensichtlich einige Bedingungen geändert werden, damit die Arbeit wieder Spaß macht und nicht täglich psychische Energie sinnlos verpufft. Wenn jemand seine Arbeit nicht weitermachen will, gibt es häufiger als gedacht KollegInnen, die genau diesen Job gerne übernehmen wollen und können. Genau das erlebte ich vor kurzem mit einem Kunden.

Es würde mich freuen, wenn es für Sie auch im Sinne von Lean einen Gedanken wert wäre, die Arbeit in ihrer Organisation zu demokratisieren.
Und wenn Sie der Begriff stört: Dann reden Sie halt von mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.



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